7.OKtober
Jeder, der sich am 7. Oktober in Israel befand, weiß, wo er an dem Morgen war.
Chrissie Willker

Am Morgen des 7. Oktober wachte ich um 6:30 Uhr auf, als das Mädchen, das neben mir schlief, den Reißverschluss unseres Zeltes öffnete und nach draußen ging. Fast zeitgleich kam eine Gruppe äthiopischer Israelis, die sich lautstark unterhielten. Sie schrien fast. Ich drückte etwas genervt meine Ohropax fester ins Ohr, doch es half nichts. Ich war wach. Außerdem vernahm ich immer wieder ein Donnergrollen im Hintergrund. Das Laubhüttenfest war gerade vorbei, wo es normalerweise wieder den ersten seichten Regen gab. Gewitter hatte ich da eigentlich noch nie erlebt.

An diesem Samstag war Simchat Torah, wo die Torah gefeiert wird und der Bibelleseplan durch die Torah wieder neu anfängt. Wir wollten eine Nacht in den Judäischen „Bergen" zelten, um dann am nächsten Morgen Richtung Jerusalem zu wandern. Da wir sowieso vorhatten, früh zu frühstücken und ich wach war, zog ich mich im Zelt um und hörte mir gleichzeitig die Bibelstelle meines Bibelleseplans an.

An diesem Tag kam ein Kapitel im Buch Richter dran. Es ging um die Geschichte, wo die Konkubine eines Leviten von den Dorfbewohnern des Stammes Benjamins so lange vergewaltigt wurde, bis sie starb, und der Levit sie danach in zwölf Stücke zerteilte und sie an die verschiedenen Stämme versandte. Das war ja nicht so eine erbauende Geschichte am Morgen. Hätte ich gewusst, dass sich fast zeitgleich ähnliche Geschichten im Süden des Landes abspielten, hätte mich das natürlich nochmal ganz anders bewegt.


Danach sah ich mir meine WhatsApp-Nachrichten an und las, dass Loren Cunningham, der Gründer von Jugend mit einer Mission, in der Nacht gestorben war. Der Morgen fing mit schlechten Nachrichten an. Fast ein Jahr wusste man schon, dass er mit Krebs diagnostiziert wurden war, der sich in seinem ganzen Körper ausgebreitet hatte. Er hatte nur noch wenige Wochen zu leben. Doch nach dem Befund fingen Menschen auf der ganzen Welt an, für ihn zu beten. Die Schmerzen, die ihn bis dahin ans Haus gebunden hatten, hörten auf, und er bekam nochmal einen Schwung Energie. Monatelang hatte er die Möglichkeit, sich nicht nur von verschiedenen Freunden und Mitarbeitern zu verabschieden, sondern auch die Message weiterzugeben, die auf seinem Herzen brannte: Jede Sprache, jeder Dialekt sollte eine Bibelübersetzung bekommen, und die Aufgabe der Übersetzungsarbeit sollte an Muttersprachler gehen. Vielleicht war JMEM früher mal nicht in Übersetzungsarbeit involviert, aber das würde sich jetzt definitiv ändern.



Jerusalems Markt, Machane Yehuda, am Freitagmorgen vor dem 7. Oktober
Die Campinggruppe, die aus mir bekannten und unbekannten Leuten bestand, aus Israelis, internationalen Studenten sowie deren Freunden, die zu Besuch da waren, packte die Zelte weg, und wir aßen zusammen Frühstück.

Noch am Morgen zuvor war ich über den völlig überfüllten Markt gegangen, um ein paar Mangos und Challahbrote zu kaufen, Hefezöpfe, die zum Sabbatanfang gegessen wurden. Die aßen wir nun, zusammen mit dem selbstgemachten Joghurt, den ich in einer Kühltasche mitgebracht hatte. Ich weiß noch, wie ich an dem Freitagmorgen dachte, dass ich früher den Markt freitags immer vermieden hatte, weil er mich gerade nach Corona richtig gestresst hat. Der Stress war nicht auf die Angst bezogen, mich mit Corona anzustecken, aber die Lockdowns und ruhige Atmosphäre im Haus waren ein so starker Kontrast zu dem lauten Trubel auf dem Markt, der mein hebräisches Hörverständnis schon sehr herausforderte. Aber an dem Freitagmorgen liebte ich die Atmosphäre auf dem Markt einfach und dachte nur, wie sehr ich mich an manches Durcheinander in Israel gewöhnt hatte.


Irgendwann fragte ich jemanden, als ich wieder das Donnergrollen vernahm, „Was ist das eigentlich?" und einer der deutschen Besucher antwortete: „Oh, weißt du das noch gar nicht? Das sind Raketen." Für ein paar der Studenten, die im Süden wohnten, war das kein ungewöhnliches Geräusch, denn dahin werden wesentlich öfter Raketen abgeschossen als nach Zentralisrael oder womöglich nach Jerusalem. Natürlich war das Grollen nicht wirklich die Raketen, sondern eher der Iron Dome, das Raketenabwehrsystem.

Meine erste Reaktion war: „Was haben wir jetzt schon wieder gemacht?" Manchmal liest man an einem Tag mal nicht die Nachrichten, und schon verpasst man, warum Raketen nach Israel abgeschossen werden. Diese Reaktion von mir finde ich im Nachhinein übrigens recht interessant. Wenn ich über deutsche Geschichte oder Politik rede, rede ich meistens von „Deutschland hat dies oder jenes gemacht" oder „Die Deutschen beschlossen das." Und hier frage ich auf einmal, was WIR denn jetzt schon wieder gemacht hätten. Da merkt man, wie sehr ich mich in Israel heimisch fühle auf eine komische Art und Weise.


Wir aßen normal weiter und planten unseren Tag. Raketen in Israel sind so wie leichte Erdbeben im Pazifik oder Zyklone in Australien. Sie passieren halt, und dann macht man weiter. Diese Gelassenheit der Israelis hilft enorm, selbst gelassen über Raketen zu werden. Außerdem waren wir kurz vor Jerusalem. Nach Jerusalem kamen äußerst selten Raketen – angeblich alle 6 Jahre mal. So wurde es mir zumindest Ende 2019 gesagt, aber seitdem ist es mir tatsächlich schon in drei der vier Jahren passiert, wenn auch meistens nur einmal pro Jahr. Doch am 7. Oktober war das anders.


Die dicke Stahltür meines Zimmers
Um ungefähr 8:00-8:30 Uhr fing auch bei uns der Raketenalarm an. Man konnte die Genervtheit der Israelis sehen. Viele Gebäude in Israel haben entweder einen Schutzbunker für das ganze Haus oder jede Wohnung hat einen Schutzraum. Der Schutzraum in meiner Wohnung in Jerusalem war tatsächlich mein Schlafzimmer. Im Gegensatz zu den Fenstern der anderen Räume schloss mein Fenster wirklich gut, und ich konnte auch dicke Fensterläden davorschieben, was bisher noch nicht notwendig war. Meine Mitbewohnerin, die vorher in meinem Zimmer gewohnt hatte, hatte dort auch ein Mückennetz befestigt, so dass man die äußeren Fensterläden nur verschließen konnte, wenn man das Moskitonetz zerstörte. Mit anderen Worten: Diese Fensterläden würden nur im äußersten Notfall zum Einsatz kommen. Mücken waren definitiv ein größeres Problem in Jerusalem als Raketen und konnten schlaflose Nächte bringen.
Bilder aufhängen im Zimmer tat ich auch nicht mit Nägeln, denn auch die dicken Wände waren dafür da, um vor Raketen zu schützen. Ich behalf mich mit klebbaren Haken. Auch hatte mein Zimmer eine dicke Stahltür, die man aber nicht abschließen konnte. Eine fehlende Funktion, die vielen Menschen in den Kibbuzen zum Verhängnis wurde. Gegen Raketen und Feuer war man zwar geschützt, aber nicht gegen Terroristen, die die Tür aufmachen konnten.

Was macht man, wenn Raketen kommen und man hat keinen Schutzraum? Das hatte ich extra mal nachgeforscht, als ich 2021 das erste Mal mit einem Raketenalarm konfrontiert wurde. Im Internet stand, dass man ähnlich vorgeht wie bei Hurrikanen und Zyklonen: Weg von Fenstern, am besten ein Raum ohne Fenster, der im Inneren und im Erdgeschoss lag.

Nun, wir waren in den Wäldern der Judäischen Berglands. Einen Schutzraum gab es im Wald definitiv nicht und auch kein Gebäude. Aber was macht man draußen? Man legt sich flach auf den Boden und schützt seinen Kopf. Das wird einem zwar nicht viel helfen, wenn eine Rakete genau auf einen rauffallen sollte, aber die Wahrscheinlichkeit ist schon recht gering. Die Maßnahmen helfen dabei, sich vor Granatsplittern zu schützen, wenn eine Rakete in der Nähe einschlagen sollte. Und so legten wir uns alle, ein paar widerwillig, auf den erdigen Waldboden.

Man liegt auf dem Boden, um sich vor Granatsplitter zu schützen
Nach den ersten paar Raketenalarmen planten wir immer noch weiter wandern zu gehen. Die Besucher aus Deutschland waren überrascht, wie locker wir mit allem umgingen, denn wir waren immer noch fröhlich und voller Tatendrang. Wie gesagt: Wir wussten nur Bruchstücke von dem, was im Süden passiert war und nicht die ganzen Ausmaße.

Unsere Devise war: Wegen ein paar Raketen lässt man sich doch den Samstag nicht verderben. Doch so richtig kamen wir nicht weg, denn alle paar Minuten war ein erneuter Raketenalarm. Wir fingen an, unsere Köpfe schützend unter einen Holztisch zu legen, den es bei diesem Zeltplatz gab. So lagen wir unter diesem Tisch, sangen und scherzten. Aber ein paar der internationalen Studenten und Besucher waren verständlicherweise nicht ganz so entspannt. Einer zitterte bei jedem Raketenalarm, und so fingen wir dann auch an, spezifisch für die Menschen zu beten, die an diesem Tag Angst hatten.

Unser Plan änderte sich von Stunde zu Stunde: Von den ganzen Tag wandern gehen änderte er sich zu einer Teilstrecke bis wir ihn ganz abbrachen. Manche wollten nach Hause. Und als dann tatsächlich eine Rakete in der Ferne einschlug und nicht abgeschossen wurde, entschieden sich selbst die Israelis, dass es an der Zeit wäre, nach Hause zu fahren.

Doch vorher wollten wir noch ein paar Anbetungslieder singen, denn solche Kämpfe sind meist ja nicht nur von physischer sondern auch geistlicher Natur. Jemand kramte eine kleine Ukulele raus, und wir begannen mit dem Lied „No Longer Slaves", in dem es darum ging, dass wir keine Sklaven der Angst mehr sind. Das war das einzige Lied, bei dem wir nicht unterbrochen wurden. Vorher und nachher kam jeweils wieder ein Raketenalarm.
Beim nächsten Lied „Cornerstone" wurden wir plötzlich von einem lauten „Bumm!" unterbrochen. Es war der Iron Dome, der eine Rakete in einiger Entfernung abschoss. Der Knall war so laut, dass wir uns doch ziemlich erschraken. Ich merkte von mir nur, dass ich entweder vollkommen ruhig war oder keine guten Reflexe habe, was im Notfall vielleicht nicht so gut wäre, weil ich noch nicht mal zusammenzuckte.

Dann war es Zeit zu fahren und sich zu verabschieden. Wir kamen aus allen Richtungen, und eine deutsche Freundin von mir bot denjenigen, die gerade in Jerusalem oder auf dem Weg wohnten, sie nach Hause zu fahren, obwohl sie selbst woanders wohnte. Im Auto zu fahren machte mich allerdings etwas nervös. Ich wusste, dass man aus dem Auto raus und sich etwas entfernt vom Auto hinlegen sollte, falls ein Raketenalarm anfangen würde. Aber wir waren ja in den judäischen Bergen. Da gab es nicht ganz so viele Ecken, wo man sich von der Straße weg hinlegen könnte. Und außerdem muss man bei Autolärm dann auch etwas besser hinhören.

Wir setzten die erste Mitfahrerin in Mevaseret Zion ab, einen Vorort Jerusalems. Mevaseret Zion war auch der Ort, wo die Rakete, die nicht abgeschossen wurde, eingeschlagen hatte, doch das sahen wir nicht. Dort machten wir eine kurze aber notwendige Toilettenpause. Während des Raketenalarms beim Zelten ist denn auch keiner mehr freiwillig in die Büsche verschwunden. Denn dort, wo schon viele ihr Geschäft erledigt hatten, was man am verstreuten Toilettenpapier sehen konnte, wollte man sich definitiv nicht auf den Waldboden legen. Also wenn man auf Klo musste, dann musste man es jetzt wohl oder übel halten oder mit den Konsequenzen leben.


Die judäische Berglandschaft
Wir fuhren weiter und waren gerade in Jerusalem angekommen, als der nächste Raketenalarm anfing. Ich hatte vorher schon mal gedacht, dass man es eigentlich einmal erleben muss, dass man im Auto vom Raketenalarm überrascht wird, damit man als Einheimischer gilt. Und jetzt passierte dies. Hier hatten wir glücklicherweise auch Platz auf der Straße bzw. dem Fußweg.
Im Nachhinein betrachtet war der Platz sicherlich nicht der beste Ort, den wir ausgewählt hatten. Man hätte noch in irgendein Gebäude laufen können oder sich zumindest etwas weiter entfernt vom Wagen hinlegen können, auf die andere Seite der Gartenmauer. Wenn eine Rakete in das Auto geschlagen wäre, dann wäre unser Standort katastrophal gewesen. Aber unser Auto bestand nur aus internationalen Insassen, Studenten oder Touristen, und wir waren alles andere als geübt in solchen Dingen.
Doch um ein Video zu drehen war er der beste Platz. Das Filmen ist sicherlich nicht immer unbedingt die beste Angewohnheit in solchen Momenten, doch irgendwie wollte ich schon dokumentieren, dass ich es jetzt auch mal draußen erlebt hatte. Vielleicht sollte ich Journalistin werden.
Danach ging es zum Abraham Hostel (Jugendherberge) in der Innenstadt, in dem ich zu Ostern für einen Workshop internationaler Übersetzungsberater zwei Wochen geschlafen hatte. Einer von den Mitfahrern wollte dort übernachten, weil wir ihm von der Jugendherberge in Ostjerusalem in dieser Zeit abgeraten hatten. Die Altstadt Jerusalems kann in solchen Zeiten eher Konfliktpunkt sein und dem muss man sich ja nicht freiwillig aussetzen. Wir kamen gerade zum Stehen, als wieder der Raketenalarm anging. So liefen wir alle ins Gebäude und kamen in ein überfülltes Foyer. Natürlich. Hier wohnten viele Touristen, die jetzt nicht das Gebäude verließen.

Auch einige der Hebräischstudenten wohnten hier, weil unser neues Semester angefangen hatte und es einen Monat lang eine Überlappung von alten und neuen Studenten gab, die nicht alle ins Studentenwohnheim passten. Ich unterhielt mich mit ein paar von ihnen und zeigte ihnen gleich die Videos. Einer rief enttäuscht, „Ach, ich hätte mal mitkommen sollen! Das ist ja ein richtiges Abenteuer!" Ich verstand ihn; es fühlte sich ähnlich für mich an. Uns war ja nichts passiert. Wir hatten nur ein bisschen Raketenalarm ohne Verletzungen erlebt. Der Grat zwischen Abenteuer und Albtraum bzw. Trauma kann aber sehr schmal sein, wie wir ja später lernen sollten.

Da das Foyer in der Jugendherberge so überfüllt war mit Leuten, war ich mehr als bereit, schnell weiterzufahren, doch gab es da noch ein kleines Problem. Die letzte Mitfahrerin wohnte momentan in der Nähe der City of David, ein Stadtteil in Ostjerusalems in der Nähe der Altstadt. Das hatte meine Freundin, die uns fuhr, nicht mitbekommen. Und sie wollte unter keinen Umständen dahinfahren. Es gab einfach zu viel Konfliktpotential.

So versuchten wir eine Lösung zu finden, was sich als schwerer rausstellte als angenommen. Bei dem lauten Stimmengewirr konnte man aber auch keinen klaren Gedanken fassen. Am Ende ihrer Kräfte erklärte meine Freundin schließlich: „Also, ich fahre jetzt erstmal Chrissie nach Hause und wenn du danach noch irgendwo hingefahren werden möchtest, dann sag mir Bescheid. Ich komme dann wieder und fahr dich dahin. Und wenn ich nichts von dir höre, dann weiß ich, dass du eine andere Lösung gefunden hast." Ich war erleichtert. Endlich nach Hause. Ich schrieb in die WhatsApp- Gruppe meiner Wohnung: „Ich fahre jetzt gleich los." Doch dann kam der Anruf meiner Mitbewohnerin.
Das Abraham Hostel und dessen Foyer an einem normalen Tag
„Chrissie, fahr nicht!" rief sie besorgt. Perplex antwortete ich erstmal gar nichts. Tess ist Israelin und generell sehr gelassen, was Raketen angeht. Als ich einmal um ihre Meinung bat, ob ich zu meinen Übersetzungsprojekt in den Süden fahren sollte, weil gerade wieder ein paar Raketen in den Süden abgeschossen wurden, lachte sie nur ab und sagte, „ja klar, Chrissie. Das ist gar kein Problem."

Und jetzt wollte sie, dass ich im überfüllten Abraham Hostel bleibe, obwohl der Weg nach Hause an einem Sabbat (an dem kaum Autos in der Stadt fuhren) nur zehn Minuten dauern würde. Hinzu kam, dass sie gerade im Urlaub in Schottland war und sich extra die Mühe machte, mich von dort aus anzurufen.

Und noch mehr verwunderte mich ihr nächster Ratschlag: „Chrissie, du musst dir jemanden mit einer Waffe suchen, der dich beschützen kann. Geh nicht raus, ohne jemanden dabeizuhaben mit einer Waffe! Am besten schließt du dich irgendwo ein." Ich war vollkommen verwirrt. Es war so ruhig in Jerusalem, und selbst der Raketenalarm hatte aufgehört. Die Jugendherberge war laut und überfüllt. Warum hatte sie solche Angst? Nicht nur klang sie nicht wie die Tess, die ich kannte.

Erst im Nachhinein verstand ich, dass man in Europa schon einige Videos zu dem Zeitpunkt sehen konnte, die von der Hamas selbst gepostet wurden. Die Videos, die später vom Netz genommen wurden, machten aber in dieser Anfangszeit ihre Runde. Und diese hatte Tess gesehen und war mehr als bestürzt. Sie sagte selbst, als sie eine Woche später wieder nach Jerusalem zurückkehrte, dass es wesentlich einfacher für sie war, wieder im Land zu sein und zu sehen, wie der Zustand ist, als all die schlimmsten Nachrichten und Bilder aus der Ferne zu sehen. Etwas, was auch ich im Nachhinein nachvollziehen konnte, denn auch für mich war es wesentlich einfacher, im Land zu sein als jetzt alles aus der Ferne zu verarbeiten.

Nach Tess' Warnung zögerte ich, aber ließ mich letztendlich doch nicht beirren. Ich wollte nach Hause. Wir setzten uns in den Wagen und wollten gerade losfahren, da kam ein Mann vorbei. Er klopfte ans Fenster. „Ich glaube, ihr habt einen Platten", meinte er. Auch das noch. Dafür hatten wir jetzt echt keine Zeit. Meine Freundin stieg wieder aus und sah sich den Reifen an. „Ich muss nachher mehr Luft auf die Reifen füllen", meinte sie. „Aber nach Hause bringen kann ich dich schon." Ich atmete erleichtert auf. Zehn Minuten später waren wir in meiner Straße. Ich wohne in einem muslimisch-jüdischen Stadtteil, doch es waren weder muslimische noch jüdische Anwohner zu sehen. Auch der kleine Park, wo sich sonst samstags Familien treffen, war menschenleer.


Als ich meine Wohnungstür aufschließen wollte, bemerkte ich, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Komisch. Die Eingangstür verschließt sich nur, wenn man sie mit dem Schlüssel abschließt. Sonst kann jeder von draußen einfach reinspazieren. Wir schlossen eigentlich immer ab.

Meine Freundin und ich kamen fröhlich hinein und ich witzelte: „Was ist das denn? Tess sagt mir, ich soll mich einschließen und mir jemanden suchen, der eine Waffe hat, der mich beschützt. Und dann ist noch nicht mal unsere Wohnungstür abgeschlossen?" Meine Freundin und ich waren eigentlich immer noch sehr entspannt und fröhlich, besonders jetzt, wo wir der überfüllten Jugendherberge entflohen und in meiner ruhigen Wohnung mit dem wunderschönen Blick gen Osten angekommen waren. Wir überlegten sogar, ob wir noch ins Gebetshaus um die Ecke gehen sollten. Aber weil ich wusste, dass viele in Deutschland für meine Sicherheit beteten, wollte ich auch nicht leichtfertig mit der Situation umgehen und entschloss mich, Zuhause zu bleiben.

Doch der Kontrast der Stimmung zu Hause war gravierend. Ich sah, wie mitgenommen meine Mitbewohnerin, ihr Verlobter und eine gerade eingezogene Untermieterin auf dem Sofa aussahen und ich hörte auf mit meiner Witzelei.

Im Nachhinein fand ich heraus, dass meine Mitbewohner versucht hatten, das Moskitonetz vor meinem Schlafzimmerfenster irgendwie zu entfernen, ohne es zu zerstören, um die Fensterläden schließen zu können. Da es ihnen nicht gelang, liefen sie statt in diesen Schutzraum bei jedem Raketenalarm ins Treppenhaus. Das war etwas nervenaufreibend gewesen. Am nächsten Tag zog ich die Konsequenzen und zerschnitt schweren Herzens mein Moskitonetz. Am Ende ist es dann doch wichtiger, dass sich alle sicher in meinem Zimmer versammeln können. Dann kann ich wohl auch ein paar Mückenstiche auf mich nehmen. In Israel gibt's ja schließlich kein Malaria.

Vieles könnte man noch schreiben, aber dies soll ja ein Blog sein und kein Roman. Jeder in Israel weiß, wo er am 7. Oktober gewesen war, so wie jeder weiß, wo er war, als am 11. September die Flugzeuge in den World Trade Center geflogen sind (falls man zu dem Zeitpunkt schon existierte, denn das Ganze ist ja jetzt auch schon fast 23 Jahre her).

Ich für meinen Teil bin sehr dankbar, dass ich an dem Morgen gezeltet habe und einen sehr schönen Morgen mit netten Menschen verbracht habe – trotz allem. Ich bin froh, dass ich mir nicht alle möglichen Medien die erste Woche angeguckt habe und es mir dadurch glaub ich manchmal besser ging als den Menschen in Deutschland. Mit einigen Leuten an diesem Morgen fühle ich mich jetzt noch mehr verbunden als vorher und stehe in regelmäßigen Kontakt. Dafür bin ich sehr dankbar.

Die Menschen in Israel liegen mir natürlich auch jetzt noch sehr auf dem Herzen und ich bete, dass bald alle Geiseln wieder nach Hause kommen können.


BRING THEM HOME NOW
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Tilda