„Chrissie, fahr nicht!" rief sie besorgt. Perplex antwortete ich erstmal gar nichts. Tess ist Israelin und generell sehr gelassen, was Raketen angeht. Als ich einmal um ihre Meinung bat, ob ich zu meinen Übersetzungsprojekt in den Süden fahren sollte, weil gerade wieder ein paar Raketen in den Süden abgeschossen wurden, lachte sie nur ab und sagte, „ja klar, Chrissie. Das ist gar kein Problem."
Und jetzt wollte sie, dass ich im überfüllten Abraham Hostel bleibe, obwohl der Weg nach Hause an einem Sabbat (an dem kaum Autos in der Stadt fuhren) nur zehn Minuten dauern würde. Hinzu kam, dass sie gerade im Urlaub in Schottland war und sich extra die Mühe machte, mich von dort aus anzurufen.
Und noch mehr verwunderte mich ihr nächster Ratschlag: „Chrissie, du musst dir jemanden mit einer Waffe suchen, der dich beschützen kann. Geh nicht raus, ohne jemanden dabeizuhaben mit einer Waffe! Am besten schließt du dich irgendwo ein." Ich war vollkommen verwirrt. Es war so ruhig in Jerusalem, und selbst der Raketenalarm hatte aufgehört. Die Jugendherberge war laut und überfüllt. Warum hatte sie solche Angst? Nicht nur klang sie nicht wie die Tess, die ich kannte.
Erst im Nachhinein verstand ich, dass man in Europa schon einige Videos zu dem Zeitpunkt sehen konnte, die von der Hamas selbst gepostet wurden. Die Videos, die später vom Netz genommen wurden, machten aber in dieser Anfangszeit ihre Runde. Und diese hatte Tess gesehen und war mehr als bestürzt. Sie sagte selbst, als sie eine Woche später wieder nach Jerusalem zurückkehrte, dass es wesentlich einfacher für sie war, wieder im Land zu sein und zu sehen, wie der Zustand ist, als all die schlimmsten Nachrichten und Bilder aus der Ferne zu sehen. Etwas, was auch ich im Nachhinein nachvollziehen konnte, denn auch für mich war es wesentlich einfacher, im Land zu sein als jetzt alles aus der Ferne zu verarbeiten.
Nach Tess' Warnung zögerte ich, aber ließ mich letztendlich doch nicht beirren. Ich wollte nach Hause. Wir setzten uns in den Wagen und wollten gerade losfahren, da kam ein Mann vorbei. Er klopfte ans Fenster. „Ich glaube, ihr habt einen Platten", meinte er. Auch das noch. Dafür hatten wir jetzt echt keine Zeit. Meine Freundin stieg wieder aus und sah sich den Reifen an. „Ich muss nachher mehr Luft auf die Reifen füllen", meinte sie. „Aber nach Hause bringen kann ich dich schon." Ich atmete erleichtert auf. Zehn Minuten später waren wir in meiner Straße. Ich wohne in einem muslimisch-jüdischen Stadtteil, doch es waren weder muslimische noch jüdische Anwohner zu sehen. Auch der kleine Park, wo sich sonst samstags Familien treffen, war menschenleer.